Was ist das Gegenteil von prim?
Ab und an nutze ich meine Mittagspause, um mich auf eine Ruderbank zu schnallen und statt des Essens meinen Büroalltag – sowie meinen Body-Mass-Index – ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen. Dafür habe ich dann in etwa eine halbe Stunde Zeit, mithin also um die 30 Minuten oder entsprechend 1800 Sekunden. Die genaue Zeit ist an der Ruderbank einstellbar und zählt dann rückwärts die verbleibende Zeit herunter. Während des Ruderns habe ich es mir zum Denksport gemacht, jeweils einen Zeitpunkt zu berechnen, an dem die Restzeit einen ganzzahligen Bruchteil der Anfangszeit darstellt.
Bei 20 Minuten beispielsweise habe ich bei 10 Minuten (’) noch die Hälfte vor mir, bei 6’40 noch ein Drittel, bei 5’ noch ein Viertel, bei 4’ ein Fünftel, bei 3’20 ein Sechstel, bei 2’30 ein Achtel, bei 2’ ein Zehntel usw. Bekanntermaßen erfolgen die Teiler gegen Ende in immer kürzeren Abständen – was dann im Einklang mit der körperlichen Erschöpfung durchaus erwünscht ist. Denn: Je weniger Kraftreserven man hat, desto schneller erreicht man das jeweils nächste Zwischenziel.
Ärgerlich ist dabei nur, dass manche Teiler nicht restlos passen. Im genannten Beispiel ist es zunächst das Siebtel und dann das Neuntel, welche sich nicht in die Sekundenfolge restlos einfügen lassen. Also habe ich die Anfangszeit auf 21’ erhöht, welches dann zur Hälfte 10’30, zum Drittel 7’, zum Viertel 5’15, zum Fünftel 4’20, zum Sechstel 3’30, zum Siebtel 3’, zum Neuntel 2’10, zum Zehntel 2’06 macht. Das entsprach schon einer glatteren Einteilung des Ablaufs – allerdings musste nun wiederum das Achtel geopfert werden. Welche Zeit also muss man sich wählen, um auch das Achtel einzuschließen? Oder welche Zeit wäre überhaupt am besten geeignet, um möglichst viele Teilzeiten während der Pause daraus zu gewinnen?
KGV oder LCM
Natürlich kann man das „Kleinste Gemeinsame Vielfache“ LCM (Lowest Common Multiple) nehmen, das man vielleicht noch aus der Schule kennt, um verschiedene Brüche auf einen Nenner zu bringen. Dazu bildet man das Produkt der höchsten vorkommenden Primzahlpotenzen aller betrachteten Zahlen. Bei den Zahlen von 1 bis 12 wäre das dann 23×32×5×7×11, aber das ergibt dann bereits 27.720 Sekunden, oder 462 Minuten bzw. fast 8 Stunden.
Lieber sucht man sich dann doch eine Zahl unterhalb eines gesetzten Limits – beispielsweise 1800 Sekunden – welche dann möglichst viele Teiler enthält. Aber was sind das für Zahlen?
Also zunächst die 1 hat einen Teiler. Die 2 deren zwei, nämlich 1 und 2. Die 3 wieder zwei. Die 4 aber erhöht auf drei, nämlich 1,2 und 4. Als nächstes erhöht die 6 auf vier Teiler (1, 2, 3, 6). Dann erhöht zwar erst wieder die 12, dafür aber gleich auf sechs Teiler (1, 2, 3, 4, 6, 12). Dann dauert es nochmals doppelt so lange, bevor es sich bei 24 abermals um 2 Teiler auf 8 erhöht (1, 2, 3, 4, 6, 8, 12, 24). Aber dies stellt noch keine Regel dar, denn der nächste Sprung hat wiederum nur um einen Teiler mehr, dafür findet er aber bereits bei 36 statt (1, 2, 3, 4, 6, 9, 12, 18, 36). Weiter geht es dann mit der 48 und 10 Teilern und der 60 und 12 Teilern. Dann kommt wieder eine große Lücke: Erst die 120 hat wieder mehr Teiler, dafür aber gleich 16.
Der angenehme Nebeneffekt dieser Überlegungen war, dass die Zeit wie im Fluge verging, und die körperliche Anstrengung gegenüber der geistigen zurückwich. Tatsächlich war meine körperliche Leistung auf dem Ergometer sogar höher als zuvor, denn offenbar hatte mich das Problem beflügelt. Abstrakt formuliert lautet die Aufgabe:
· Welche Zahl in natürlicher Folge hat mehr Teiler als alle vorhergehenden?
Deprim oder HCN
Ich hatte sie zunächst „Deprim-Zahlen“ getauft, weil sie doch so in etwa das Gegenteil von den Primzahlen darstellen. Dann habe ich erfahren, dass sie in der mathematischen Lehre als Hochzusammengesetzte Zahlen HCN (Highly Composite Numbers) bekannt sind, und sich bereits das große Zahlengenie Srinivasa Ramanujan (1887-1920) damit befasst hatte. Außerdem scheinen die Begründer historischer Maßsysteme bereits die Bedeutung der HCN erkannt zu haben, denn der Tag hat 24 Stunden, die Stunde 60 Minuten und der Vollkreis 360 Grad – mithin alles Deprim-Zahlen. Auch natürliche Systeme zeigen mitunter in etwa diese Vielzähligkeit auf, beispielsweise die (ungefähr) 12 Mondumläufe für einen Sonnenumlauf in (etwas mehr) als 360 Tagen. Irgendwie scheinen die HCN doch fast ebenso spannend wie die Primzahlen zu sein.
Eine Verbindung zwischen diesen primen und deprimen Extremen entsteht durch die übliche Zerlegung natürlicher Zahlen in ihre Primfaktoren: n = Πpici.
Falls n eine Primzahl p ist, dann gibt es nur 2 Kombinationsmöglichkeiten der Primfaktoren: 1 und p. Alle anderen Zahlen weisen mehr Kombinationsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Primfaktoren auf, deren Anzahl sich zu t = Π(ci+1) berechnen lässt.
Eine HCN ist also diejenige natürliche Zahl n, deren Anzahl an Teilern t größer ist, als alle natürlichen Zahlen zuvor. Da also spätestens das Doppelte einer HCN noch mehr Kombinationsmöglichkeiten von Primfaktoren aufweist als diese, kann die Anzahl möglicher Teiler unbegrenzt anwachsen. Obwohl die Deprim-Zahlen HCN rasch größer werden, gibt es somit auch davon unendliche viele in beliebiger Größe.
Teilerzahl oder HDN
Umgekehrt gibt es zu jeder HCN genau eine Teiler-Zahl, die ich HDN [High Divisor Number] genannt habe. Man könnte vielleicht meinen, dass man nun für jede natürliche Zahl als HDN die passende HCN bestimmen könnte. Aber leider ist auch nicht jede natürliche Zahl eine HDN, denn bereits in den oben berechneten Fällen fehlen die 5 und die 7. Die HCN und deren HDN stellen zwei korrespondierende, gleichmächtige Teilmengen der natürlichen Zahlen dar.
[HCN] = (1, 2, 4, 6, 12, 24, 36, 48, 60, 120, …)
[HDN] = (1, 2, 3, 4, 6, 8, 9, 10, 12, 16, …)
Was würde man wohl im IQ-Test sagen sollen, womit diese Zahlenfolgen weitergehen? Was bedeutet dies für die so populäre Zahlenmystik des DaVinci-Codes u.a.?
Das Zahlenpaar (HCN, HDN) steigt monoton, weil eine größere Teilerzahl immer auch zu einer größeren Deprimzahl gehört. Wie aber verhält es sich dann mit der Relation r = HCN/HDN?
Für die ersten Werte nimmt r monoton ab: (1/1 ; 2/2 ; 3/4 ; 4/6 ; 6/12 ; 8/24 ; 9/36 ; 10/48 ; 12/60 ; 16/120). Aber läuft diese Folge asymptotisch gegen Null oder vielleicht gegen einen festen Wert? Irgendwie erwarte man, dass die Teilerzahl HDN bei größeren Deprimzahlen HCN stärker zunimmt, weil sich die Primzahlen immer mehr ausdünnen und deshalb die Kombinationsmöglichkeiten für Primzahlpotenzen erhöhen. Diese Zahlenfolgen scheinen doch einige Geheimnisse zu enthalten. Welchen Gesetzmäßigkeiten unterliegen Deprimzahlen und Teilerzahlen? Gibt es allgemeine Berechnungsformeln? Wie entwickelt sich ihr Verhältnis? Bestehen strukturelle Ähnlichkeiten zu den Primzahlen?
Möglicher Nutzen
Wie viele Abgeordnete sollte ein direkt gewähltes Gremium haben, um unterschiedliche Fraktionen zu repräsentieren? Bei jeder Wahl und Abstimmung gibt es dieses Problem der angemessenen Repräsentation. Und da jeder Abgeordnete ja schließlich Ressourcen verbraucht – in Form von Diäten, öffentlicher Aufmerksamkeit und parlamentarischer Abstimmungsarbeit – kann es durchaus schon sinnvoll sein, die Anzahl auf 120 mit 16 Teilungsmöglichkeiten festzusetzen, anstatt auf 121 mit nur 3 Teilungsmöglichkeiten – obwohl dafür sogar ein Abgeordneter zusätzlich versorgt werden muss. Wie sollte man regelmäßige Besprechungen verteilen, um mit möglichst vielen anderen periodischen Ereignissen ein Einklang zu kommen? Tatsächlich scheint der wöchentliche Rhythmus – bei 6 Arbeitstagen – oder der monatliche Rhythmus – 30 Tage – oder der jährliche Rhythmus – 12 Monate – durchaus geeignet, um sich mit vielen anderen Zeitrhythmen abzustimmen.
Diese Problemstellung stellt insofern das Gegenteil des Zikaden-Theorems dar, bei dem sich nordamerikanische Zikaden eine primzahlige Anzahl von Jahren als Larve im Erdboden verbergen, beispielsweise 7, 13 oder sogar 17 Jahre. Vermutet wird, dass sie dadurch verhindern, dass sich Räuber auf ihr Schlüpfen einstellen können, weil sie niemals auf ein Vielfaches einer kleineren Zahl passen. Umgekehrt finden sich bei entsprechend genauerer Betrachtung nun vielleicht auch Lebewesen, welche einen deprimzahligen Lebenszyklus von 6, 12, 24 oder 60 Tagen oder Jahren aufweisen, um sich möglichst effizient mit Partnern oder Beute zusammen zu finden. Unsere menschliche Zeiteinteilung zumindest scheint sich bereits daran zu halten.
Geradezu „romantisch“ finde ich es, dass nur die Zahl 2 sowohl prim, als auch deprim ist. Hier laufen also zwei Fäden – bzw. unendlichen Zahlenfolgen – zusammen: die „einsamen“ Primzahlen und die „geselligen“ Deprimzahlen. Auf einer solchen grundlegenden Unterscheidung beruht übrigens auch die theoretische Quantenmechanik: Während für die Fermionen das Pauli-Prinzip der „Einsamkeit“ gilt – d.h. 2 Quantenobjekte am gleichen Ort mit identische Quantenzuständen sind vollkommen unwahrscheinlich – gilt für Bosonen das „Geselligkeits“-Prinzip eines Bose-Einstein-Kondensats – d.h. 2 Quantenobjekte am gleichen Ort mit identischen Quantenzuständen sind hochgradig wahrscheinlich. Vielleicht ergeben sich aus dieser Analogie mit den Deprimzahlen bzw. HCN neue Möglichkeiten zur mathematischen Beschreibung von Quantenorganisationen in Atomkernen oder beim Laser.
Demgegenüber ist eine praktische Bedeutung meiner Mittagspause auf der Ruderbank sicherlich recht bescheiden. Auch, wenn ich inzwischen ausgeknobelt habe, dass ich mit 1680 Sekunden (28‘) insgesamt 40 Teiler realisieren kann und mit meiner ersten Anpassung auf 21‘ bzw. 1260 Sekunden mit 36 Teilern bereits recht gut war. Aber ich vermute, dass auch für andere Fragen des Lebens die glatte Einteilung einer Summe von Einzelteilen vielleicht dazu beitragen kann, die Effizienz zu steigern.
Wie viele Teile sollte ein Vorrat aufweisen, um auf möglichst viele verschiedene Losgrößen aufteilbar zu sein? Wenn man vorab noch nicht weiß, wie viele Kleinteile – Schrauben, Muttern, Unterlegscheiben, Löcher, Stangen – für jeweils einen Zusammenbau eines neuen Serienproduktes erforderlich werden. Oder, wenn man noch nicht genau weiß, für wie viele Menschen oder für wie viele Tage eine zusammengestellte Notversorgung reichen soll. Die Orientierung an der HCN verhindert vielleicht, dass es in der Produktion – oder bis zur nächsten Bevorratung – zu unproduktiven Restbeständen, teuren Einzelnachlieferungen oder entsprechenden Verteilungskämpfen kommt. Überhaupt kennt das „Schlanke Denken“ in der modernen industriellen Fertigung das Prinzip eines festen „Takt“ in einem gleichmäßigen Arbeitsfluss für eine möglichst hohe Flexibilität. Eine Aufgabe der Arbeitsteilung besteht somit darin, die Arbeit entsprechend geschickt auf gleichmäßige Takte zu verteilen, welche trotz eines geglätteten Ablaufs verschiedene Bündelungen erlauben. Vielleicht ist man bei der so genannten „Austaktung“ eines Ablaufs gut bedient, wenn man dabei die Deprimzahlen HCN zugrunde legt.
Wie viele Haltestellen sollte eine Fahrstrecke aufweisen, um möglichst viele Teilstrecken zu bedienen und ein öffentliches Transportmittel effizient auszunutzen. Als ich in Paris lebte, gab es Busse auf der Stadtperipherie, die jede, jede Zweite oder nur bestimmte Haltestellen auf der gleichen Stecke anfuhren, um die mittlere Reisegeschwindigkeit zu erhöhen. Günstig wäre es vielleicht, eine deprime Anzahl von Haltestellen einzurichten, auf denen die Busse in einer möglichst vielfältigen Art von Teilstrecken verkehren. [Allerdings war aufgrund der üblichen Verstopfungen ohnehin kein effizienter Verkehrsfluss möglich. Wenn an einer Haltestelle die Angabe stand, dass alle 5 Minuten ein Regelverkehr eingerichtet sei, so bedeutete dies meist nur, dass alle halbe Stunde 6 Busse hintereinander kamen …